Seitdem ich Liberating Structures kennengelernt habe, nutze ich sie nicht nur für jegliche Art von Workshops, sondern vor allem auch für Retrospektiven. Für mich ist es immer wichtig, die beteiligten Personen bestmöglich und zielgerichtet zur Selbstorganisation und zum Selbstmanagement zu bewegen. Dies gelingt mit den 33 Mikrostrukturen perfekt, die ein sehr weites (wenn nicht unbegrenztes) Spektrum an Einsatzmöglichkeiten abdecken. Egal ob Retrospektive, Team Meeting, Entscheidungsfindung, Strategiemeeting oder Anforderungspriorisierung, die Strukturen helfen dabei, Menschen zum Mitmachen zu bewegen und sinnvolle Ergebnisse zu erzielen – sie brechen bestehende Strukturen auf. Für jeden Moderator ist das reichhaltige Menü an Strukturen ein gefundenes Fressen, um Teilnehmer jeder Gruppengröße einzubeziehen und ihnen die Kontrolle über die Ergebnisse zu übergeben. Durch die vorgegebenen Zeiten geschieht dies in einem klaren Rahmen und beeindruckenden Tempo.
Ein Gefühl von Langeweile
Bekannte Strukturen, wie bspw. Meetings, laufen in den häufigsten Fällen so ab: eine Person spricht, während viele sprichwörtlich in der Nase bohren. Ich habe Personen in Meetings schlafen, auf ihrem Telefon rumspielen oder wehmütig aus dem Fenster blicken sehen. In der Regel gibt es fünf Arten von Meetings. Präsentationen, Status Reports oder geführte Diskussionen führen oftmals zu dem von mir oben beschriebenen Szenarium. Einer redet – die anderen hören zu. Vieles von dem was da „präsentiert“ wird, ist oftmals auch von Einzelnen erdacht und in ein enges Format gepresst. Darüber hinaus gibt es noch die offen Diskussionen oder Brainstorming-Sessions, bei denen der Rahmen unter Umständen gänzlich fehlt.
In diesen Situationen raufe ich mir als Teilnehmer die Haare. Ich habe es immer als schlimm empfunden, wenn die Menschen sich nicht beteiligen konnten, etwas „zum Fressen“ vorgeworfen bekamen. Wenn auch wirklich alles dafür getan wurde, dass sich Kreativität nicht entfalten kann oder Wissen nicht genutzt wurde. Frontbeschallung eben.
Wie oben schon erwähnt, möchte ich in diesem Artikel das Beispiel einer Retrospektive anführen, um einen kleinen Einblick in die Nutzung der befreienden Strukturen zu geben.
In Retrospektiven war ich früher oftmals nicht glücklich darüber, dass ich soviel vorgeben musste, um zum Ziel zu gelangen. Eine schöne Hilfe für die Gestaltung einer Retrospektive ist der wohl allen bekannte Retromat. Auch diesen habe ich oft verwendet, um mich inspirieren zu lassen. Im Gegensatz zu den LS Strukturen, bei denen Mitglieder sofort aktiv eingebunden sind, fehlte mir jedoch oftmals das gemeinsame Entwickeln eines Ergebnisses.
Ein Gefühl von Energie
Die 33 Strukturen wurden tausende Male getestet, bevor sie den Weg ins Menü fanden. Alle folgen einem immer gleichen Aufbau, es wird:
- eine Einladung vom Moderator gestaltet,
- erklärt, wie der Aufbau (bspw. Tische, Gruppen) ist und welche Materialien benötigt werden,
- beschrieben, wie die Sequenzen ablaufen und die Teilnahme verteilt (bspw. einzelne Schritte und Interaktionen),
- erläutert, wie sich die Gruppen zusammensetzen bzw. während der Durchführung verändern (bspw. 2er-Gruppe zu 4er-Gruppe) und
- in welchen Zeiteinheiten die Interaktionen stattfinden.
Für eine einstündige Retrospektive habe ich die folgenden „String“ in Variationen eingesetzt. String bezeichnet das aneinanderfügen von Strukturen, die aufbauend zu einem Ergebnis führen bzw. die vorherigen Erkenntnisse vertiefen.
Impromptu Network – 10 Minuten
Nach dem Ankommen und überprüfen der Verbesserungen aus der letzten Retrospektive, dient diese Struktur einem entspannten Einstieg bzw. Ankommen. Im Sinne eines Smalltalk’s werden hier Fragen in Paaren beantwortet, auf die im Nachgang nicht weiter eingegangen wird. Meine Einladung lautete „Suche dir jemanden aus dem Team, mit dem du am wenigsten Zeit während des Sprints verbracht hast und tauscht euch darüber aus, was ihr vom jeweils anderen wahrgenommen habt und welche Chance oder Ideen ihr seht, den gemeinsamen Austausch zu erhöhen?“.
1-2-4-All – 12 Minuten
Mit dieser Struktur generieren die Teilnehmer in wenigen Minuten viele Ideen, die sie gemeinsam verfeinern und auf den Punkt bringen. Meine Einladung lautet „Wenn ihr dem CEO der Firma berichten müsstet, was bei euch in den letzten zwei Wochen nicht optimal gelaufen ist, was wäre das?“.
Die Teilnehmer durchlaufen die folgenden Sequenzen:
- Jeder notiert in einer Minute, was ihm als Thema/Antwort/Idee einfällt bzw. am Wichtigsten ist.
- Danach finden sich 2 Personen, die sich 2 Minuten austauschen und die Ideen schärfen.
- Im Anschluss werden 4er Gruppen gebildet, die in 4 Minuten die Gemeinsamkeiten sammeln und Unterschiede deutlich machen.
- Zum Abschluss, werden alle Teilnehmer einbezogen und Ergebnisse in 5 Minuten besprochen.
Zur besseren Visualisierung ist es hilfreich, die Ergebnisse sichtbar festzuhalten. Ich verwende 1-2-4-All oftmals auch hintereinander, um bspw. „Was können wir hervorragend?“ und „Wo drückt uns der Schuh am meisten?“ auszuarbeiten, um dann auch die ersten Lösungsansätze zu ermitteln.
15% Solutions – 20 Minuten
Im nächsten Schritt sollen die Teilnehmer erste Ideen entwickeln, wie sie zur Problemlösung beitragen können. Hinter den 15% Solutions steckt die Frage „Was liegt in meinem Einflussbereich und was kann ich sofort, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen, tun?“.
- Jeder notiert im ersten Schritt seine Lösungen in 2-3 Minuten und
- stellt diese dann einer kleinen Gruppe (2-4 Personen) vor und hört sich die 15% Solutions der Partner an (5 Minuten pro Person).
Im zweiten Schritt helfen die Zuhörer die Lösungen zu schärfen.
Entscheidung herbeiführen – 10 Minuten
Die Lösungen werden auf einzelne Karten notiert und an das „Problem“ geheftet. Nachdem alle erarbeitet haben, was sie eigenmächtig zur Problemlösung beitragen können, bitte ich die Teilnehmer nach vorne, um allen eine ihrer 15% Solutions kurz vorzustellen. Meine Frage lautet hier „Mit welchem ersten Schritt glaubst du, haben wir den größten Erfolg, um die Herausforderung zu meistern?“. Anschließend suche ich mit allen Gemeinsamkeiten, so dass am Ende 2-3 Maßnahmen übrig bleiben. Jetzt fehlt nur noch der Zeitraum, bis wann die Umsetzung erfolgen soll und ggf. eine Schärfung der Ergebnisse.
Ich mag diese Übung, da die Teilnehmer erst einmal gezwungen sind auf sich zu schauen. Denn wichtig für die Selbstorganisation des Teams ist es, die erarbeiteten Maßnahmen beeinflussen zu können.
Also, ich kann nur sagen, probier es aus und mach’s mit Liberating Structures!